Wir stellen vor: »Gretchentragödien«

»Gretchentragödien. Kindsmörderinnen im 19. Jahrhundert« von Marita Metz-Becker

Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte des Kindsmordes im 19. Jahrhundert destillierte Marita Metz-Becker aus historischen hessischen Prozessakten. Ihre Analyse dieser Zeitdokumente vermittelt tiefe Einsichten in den Alltag und die Lebenswelten unterer Bevölkerungsschichten, insbesondere lediger Dienstmägde, die, ungewollt schwanger, offenbar keinen anderen Ausweg sahen, als das Neugeborene nach der Geburt zu töten und wegzuschaffen. Nicht selten starb die überführte Kindsmörderin – obgleich nicht zum Tode verurteilt – einsam in der Haft. Die Akten lassen deutlich werden, dass sie im Vorfeld der Tat nicht allein stand: Sie zeigen, wie das Umfeld – Partner, Nachbarn, Dienstherrschaft, Personal, Gesinde – die ungewollte Schwangerschaft miterlebte und deutete und wie Macht und Ohnmacht in den alltäglichen Interaktionen zur Verleugnung, Verdrängung und schließlich zur Tat selbst führten. Die Rolle der Medizin und der Justiz wird dabei ebenso erkennbar wie die der Kirche und der örtlichen Obrigkeiten.

 

Frau Prof. Metz-Becker, was hat Sie an Kindsmörderinnen so fasziniert?

Als ich im Staatsarchiv Marburg historische Prozess-akten zu Kindstötung sichtete, war ich nicht nur über die Anzahl erstaunt – immerhin rund hundert Fälle aus der Zeit von 1770 bis 1870 –, sondern auch über die Detailliertheit der Dokumente. Viele haben den erstaunlichen Umfang von über 300 Seiten, in denen die alltäglichen Lebenswelten der Täterinnen sich wie in einem Brennglas widerspiegeln: Ihre familiäre und soziale Situation, ihre psychische und physische Verfassung, ihre schulische Bildung, das Verhältnis zur Dienstherrschaft, zu den anderen Dienstboten, der Nachbarschaft und weiteren Personen im unmittelbaren Lebensumfeld, wie Lehrer, Pfarrer, Geschäftsleute, Händler, Handwerker, Hebammen und Ärzte, deren Aussagen protokolliert sind. Auch der Stand der Medizin geht aus den Quellen hervor: akribisch geführte Sektionsprotokolle des Kinderleichnams finden sich in fast jeder Akte, außerdem die Ergebnisse der ärztlichen Untersuchung der Täterin nach der stattgefundenen Geburt. Die Rechtslage wird demonstriert, fast immer sind die anwaltlichen Plädoyers enthalten, sind die Paragraphen erläutert, auf die sich das Gericht bezieht. Die Urteilsbegründung, Begnadigungsgesuche, Revisionen und höchstrichterliche Entscheidungen sind Aktenbestandteile, die eine ebenso beredte Sprache sprechen wie die Denunziation. Die Akten erlauben damit vielfältige und auch erschütternde Einblicke in den Alltag der damaligen Gesellschaft.

Zu Marita Metz-Becker:

Die Professorin der Philipps-Universität Marburg, forscht zu Orts- und Regionalgeschichte, Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, betreibt außerdem Biografien-, Medikalkultur-, Frauen- und Geschlechterforschung. Sie ist Mitglied im ›Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung‹ der Philipps-Universität Marburg, wissenschaftliches Mitglied der Historischen Kommission Hessen, Trägerin des Otto-Ubbelohde-Preises, des »Marburger Stadtsiegels« und des Frauenförderpreises der Philipps-Universität Marburg. Bei HELMER publizierte sie bisher: »Luise Berthold. Erlebtes und Erkämpftes«.

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ISBN 978-3-89741-383-2

Paperback, 252 Seiten

19,95 € (D), 20,60 € (A), 28,50 SFr